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Croaton (5 / 5)
Jeder kennt das aus einer Beziehung oder dem eigenen Familienumfeld: Man bedient sich Wörtern oder Ausdrücken, die bei anderen eher ein Stirnrunzeln hervorrufen würden, echten "Insidern" eben. Stephen King begeht mit Love das Wagnis, in einem Roman eine ganze Reihe solcher Insider zu verwenden, welche die Ehe von Scott und Lisey Landon prägen. Dabei werden diese Ausdrücke nur nach und nach und nicht sofort erklärt und befremden den Leser bei der ersten Begegnung (vor allem in der deutschen Übersetzung; siehe auch hier) einigermaßen (siehe auch Love: Geheimsprache).
Weiterhin ist Kings Erzählstil eine Herausforderung: Scott, Hauptperson des Romans, ist auf der ersten Seite bereits tot - in Rückblicken, die keinerlei chronologischer Reihenfolge Tribut zollen, wird das eigentümliche Eheleben der Landons und vor allem Scotts übernatürliche Gabe von hinten, vorne und von der Mitte aus aufgezäumt (siehe auch Love: Erzählstruktur). Teils ist es nicht einfach zu wissen, in welcher Zeit man sich gerade befindet, vor allem, wenn Lisey an Erinnerungsbarrieren stößt, die sie für sich selbst errichtet hat, um den grausamen Aspekten der Vergangenheit mit Scott aus dem Weg zu gehen. Diese Barrieren beginnen zu bröckeln und werden durch das Auftauchen von Jim Dooley letztlich niedergerissen.
Aller vermeintlicher Leseschwierigkeiten zum Trotz gehört der Roman mit dem unglaublich dämlichen "deutschen" Titel für mich zum Besten aus der Feder Kings. Gerade die Momente, bei denen Liseys Erinnerungen gerade genug preisgeben, um die Neugier des Lesers zu wecken, nur um dann doch einen Rückzieher zu machen, fachen die Spannung immens an. Man verspürt eine gewisse Befriedigung, wenn man sich plötzlich in der Landon-Sprache spielend zurechtfindet - und dann ist da natürlich Boo'ya Mond.
Kein einzelnes Bild aus Kings Werk, vielleicht mit Ausnahme des Dunklen Turms, hat sich so tief in mein Gedächtnis eingebrannt wie der Pool der Inspiration mit seinen steil nach oben ragenden Steinstufen und den mystisch anmutenden Verhüllten, die darauf sitzen ... Ich bekomme jedes Mal eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Könnte ich diesen Roman nur in die Hände von Frank Darabont legen!
Vieles scheitert wohl an der deutschen Übersetzung - die völlig voneinander abweichenden Rezensionen bei der deutschen bzw. der amerikanischen Amazon-Seite sprechen da Bände. Somit gilt: Wenn möglich, im Original genießen. Love ist eine unvergessliche Reise an einen unvergesslichen Ort mit Charakteren, die man einfach ins Herz schließen muss. King bezeichnet den Roman selbst (unbescheiden!) als seinen besten - und er gehört klar in meine Liste der Top Fünf!
Realbaby (4 / 5)
Erst beim vierten Anlauf kam ich über die ersten 100 Seiten hinaus. Woran lag das? Nun, zum einen gewiss am Titel des Romans. Love ... Was erwartet der Leser von einem Buch mit solch einem Titel? Klar, eine Liebesgeschichte. Doch dies wäre für King, den "Meister des Horrors" untypisch. Ich bin mir auch nicht sicher, ob der englische Titel Lisey's Story mich mehr angesprochen hätte – dann doch eher Lisey und der Irre. Zum anderen wirkt der Anfang recht wirr; viele Wechsel von der Vergangenheitsform in die Gegenwart setzen ein permanentes Lesen voraus. Nach einer Pause von mehreren Tagen fand ich nur ganz schlecht den Anschluss. Doch daran gewöhnt man sich, wenn Lisey und ihre Schwester Amanda, sowie Scott, sein Bruder Paul und der Vater der Jungs den Leser in den Bann ziehen.
Einmal mehr entführt uns King eine ganz andere Welt. Doch im Gegensatz zu Das Bild konnte ich mich hier mehr auf diese Idee einlassen. Während in Das Bild ein solches das Tor zu einer anderen Welt ist, gelangt Lisey mittels Gedankenkraft an den Ort der sich Boo'ya Mond nennt. Tagsüber einer der schönsten Orte, werden nachts die Lacher aktiv und die Früchte giftig. Und auch Scotts Long Boy ist dort zuhause. Eine schreckliche Kreatur, die auch in der realen Welt in Spiegeln und Gläsern zu lauern droht.
Sehr schön, und hier ist der Titel Love zumindest nicht ganz verkehrt, ist die Bool-Jagd. Schon vor seinem Tod legt Scott die kleinen Spuren, um Lisey das längst vergessene und verdrängte Boo’ya Mond wieder entdecken zu lassen.
Einmal mehr müssen wir tatenlos mit ansehen, wie ein Vater grausam zu seinen eigenen Kindern ist. Durch das so genannte Blut-Bool versucht Scotts Vater ihm und seinem Bruder das Bösmüllige, welches sich von Generation zu Generation weitervererbt, aus den "Adern zu lassen". Im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Verletzungen sind schwerwiegend. Auch damals schon war es Scotts Boo’ya Mond, zu dem er seinen Bruder Paul mitnimmt, und ihm Heilung durch den Pool zukommen lässt. Dass das Wort "bad gunky" in Bösmülligkeiten übersetzt wurde, störte mich hier nicht im Geringsten, da ich immer den kleinen Jungen mit seinem verrückten Vater vor Augen hatte. Bösmüll passt daher zu kleinen Kindern.
Einzig und allein die Sprache der Schwestern, Lisey und Amanda, während der Autofahrt hat mich hier ein wenig gestört. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich zwei Frauen mittleren Alters so unterhalten, und Worte benutzen, die eher in der Männerwelt oder bei jüngeren Leuten zu finden sind. Aber wer weiß – ich werde schließlich auch älter und vielleicht hab ich dann eine ganz andere Meinung.
Fazit: Absolut lohnenswert und all denjenigen, die das Buch nach den ersten Seiten am liebsten beiseite legen wollen, sei gesagt: Haltet durch; es lohnt sich! Und ich weiß, wovon ich spreche ...
Wörterschmied (3 / 5)
Wie beschreibt man ein Buch wie Love am besten in einem Wort? Je länger ich darüber nachdenke, um so schwerer fällt mir eine Entscheidung. Wie bei der Rezension von Glas muss ich den Promiss gehen, das Werk in seine Aspekte aufzuteilen, um eine faire Beurteilung abgeben zu können. Das Buch ist vor allem durch drei Aspekte geprägt: die Handlung, die Charaktere und die Sprache.
- Die Charaktere (2 / 5)
Scott Landon wird für mich durch die Beziehung zu seinem Vater fassbar. Kein Autor außer Stephen King könnte einen derart bitter-süßen Cocktail aus Hass und Liebe mischen, den man trotz des stechenden Nachgeschmacks bis zum letzten Schluck genießen möchte. Leider ist Scott für mich der einzige wirklich lesenswerte Charakter (obgleich er von Anfang an im Jenseits weilt).
Lisey und ihre Schwestern wirken auf mich eher wie Tanten, die man so lange angrinst, bis der Weihnachtsbesuch wieder vorbei ist und von denen man nicht hofft, dass sie die nächsten Tage bei eBay reingucken und ihre "liebevoll ausgewählten" Geschenke wieder entdecken. Bis zum Schluss konnte ich mir kein festes Bild von Lisey machen, nur rechnerisch stellte ich fest, dass sie gar nicht mehr sooo jung sein konnte, wie sie sich oft gibt. Allzu albern wirken viele Dialoge (sie unterhält sich mit Polizisten über die Spitznamen deren Kollegen).
Und dann sind da noch Jim Dooley und Professer Woodsmucky - zwei Charaktere, die leider zu wenig ausgebaut wurden, um fassbar zu sein, geschweige denn Gänsehaut zu verursachen. Zugegeben: der gute alte Burny (Das Schwarze Haus) hatte ein gewisses Maß übernatürlicher Kräfte, aber auch so ist mir der hagere Mann in den Achtzigern immer als Sinnbild Kingscher Schreckgestalten in Erinnerung geblieben: äußerlich unscheinbar, innerlich ein Teufel! Bei Dooley mit seinem Dosenöffner und seinem Nachtsichtgerät fühle ich mich eher wie bei Märchenstunde bei Tom Clancy ... während dieser Mittagsschlaf hält. Schade!
- Die Handlung (3 / 5)
Die Handlung erinnerte mich bis zum Schluss an jene von Sara. Der Tod des Ehepartner (in Mike Noonans Fall, bleibt der Schriftsteller überleben und die Frau stirbt), die lange Depression, das Leben nach der Trauer und langsam zeichnet sich ein Schema ab: der/ die Tote hat noch einige Hinweise auf die eigentliche Handlung des Buches vor seinem/ ihrem Tod hinterlassen.
Obligatorisch folgt am Ende der Endkampf gegen den Peiniger, bei dem Mike durch seine tote Frau Unterstützung findet, Lisey den Langen Jungen die Drecksarbeit erledigen lässt. In Love ist dieses Finale eine albern wirkende Hab-dich-du-bist-Jagd ohne tiefer gehende Dialoge oder Aha-Effekte (bereits beim ersten Auftauchen Dooleys ist dem geübtem King-Leser klar, wozu die Schaufel dienen soll). Es folgt der lange Epilog, in dem Scott beschreibt, wie er seinen Vater nach dessen Bitte tötet - hat man so ein Da-war-doch-noch-was-Ende nicht schon bei der Verfilmung von Der Herr der Ringe einfach weggelassen? Warum fand King nicht die Zeit, diese Nebenhandlung vorher schon zu beschreiben, während er endlose "Smuckeramas" (Liebesspiele ohne wirkliche Liebe) in Bremen einbringt?
Die Handlung wirkt allgemein sehr fingiert, auf einen Zielpunkt hinauslaufend: die Konfrontation mit Dooley. Da dieser keine besonderen Kräfte (ich sage nur: Andre Linoge) hat, die ihn als Über-Menschen ausweisen, stellt sich mir die Frage, warum Lisey nicht den Polizeiapparat in die Gänge setzt, wenn sie doch in der Lage ist, ihre Schwester aus der Psychiatrie zu entführen und eine Waffe in ihr Haus zu schmuggeln. Schließlich ist ein Jim Dooley kein George Stark.
- Die Sprache (5! / 5)
Die Sprache oder besser: Der Anker, der mir half, mich durch die Geschichte zu ziehen. Und hier reißt King wirklich noch einmal alle Register! Ein Spektakel an Wortspielen und gründlich überlegten Verbindungen zwischen Wort und Tat - besser hat King es kaum geschafft, mich in den Bann zu ziehen. Die nur schrittweise Offenbarung der Wortbedeutungen gleicht die Spannung, welche der Handlung fehlt, wieder aus. Ich rede hierbei vom englischen Original, die deutsche Übersetzung ist hingegen reichlich absurd.
Vor allem das Wort "bad-gunky" (dt. Bösmülligkeit) ruft allein beim Klang tausende Konnotationen hervor. In Das letzte Gefecht wird beschrieben, dass Harold Lauders Worte wie mit ekligem Schleim bedeckt sind - in Love macht King eine ganze Krankheit, gar eine Lebenseinstellung daraus, die sinnbildlicher nicht sein kann. Schleim und Ekel, aber auch Hoffnung und Mut stecken in diesem Wort, dass in jedem Oxford stehen sollte!
- Fazit
Ist das Buch lesenswert? Auf Englisch definitiv! Es auf Deutsch zu lesen, würde sicherlich ein Gefühl von bad-g... tschuldigung Bösmülligkeit hervorrufen.
Wenn ihr es lest, dann auf Englisch!
Wenn ihr kein Englisch könnt, lest Sara!
Blue ( 4 / 5 )
Das Buch hat drei Handlungsstränge. Der Hauptstrang erzählt die Geschichte wichtiger Stationen in der Ehe von Lisey und Scott Landon, einem weltbekannten Schriftsteller, zu einem großen Teil retrospektiv durch Lisey 2 Jahre nach Scotts Tot erzählt. Einige dieser Stationen betreffen auch übernatürliche Geschehnisse, sodass Lisey die Erinnerungen an sie für lange Zeit verdrängt hat und sich nur nach und nach, im laufe der Geschichte, an sie erinnern kann. Der zweite Strang handelt von Lisey und ihren Schwestern, und deren manchmal schwierige Beziehung zueinander. Liseys Schwester Amanda zeigt selbst verletzendes und manchmal auch kathatonisches Verhalten und spielt vor dem Ende der Geschichte eine wichtige Rolle. Der dritte Handlungsstrang schließlich erzählt vom Stalker Jim Dooley, der Lisey bedroht, bei einer Gelegenheit schwer verletzt und dem sich Lisey am Ende stellt. Dieser Handlungsstrang war in der Schöpfung der Geschichte ursprünglich Kings Ausgangspunkt. Alle Handlungsstränge stehen miteinander in Verbindung und haben fließende Übergänge.
Übersetzung: Das erste, dass mir ins Auge fiel war, dass Love im Original "Liseys Story" heißt. Nun mag ich Anglizismen nicht besonders. Das hat wenig mit der Schönheit der deutschen Sprache oder mit Nationalstolz oder ähnlichem zu tun, ich denke nur, dass das Englische allzu häufig missbraucht wird, um Kompetenz vorzugaukeln. Wer wirklich Ahnung hat, muss statt "Veranstaltung" "Event" sagen. Und im Supermarkt gibt es plötzlich ein Non-Food-Regal. Wie unsinnig das ist, nehmen wir schon nicht mehr wahr. Lange Rede, kurzer Sinn, ich war zunächst von der "Übersetzung" des Titels sehr angewidert (bin aber schlechte Titel-Übersetzungen gewohnt - vor allem bei Dean Koontz Büchern muss ich jedes Mal den Kopf schütteln). Nachdem ich das Buch jedoch gelesen habe, änderte ich meine Meinung. Love ist der bessere Titel für das Buch. Nicht nur, weil Love den Inhalt des Buches besser fasst, sondern auch weil die Geschichte nicht wirklich Liseys Geschichte ist. Es ist Scott Geschichte, die uns interessiert, und die von Lisey erzählt wird. Es ist fast so, als ob sich der erste Satz im Buch am Ende bewahrheitet hätte, nämlich dass sich sinngemäß fast niemand für die Frauen von berühmten Schriftstellern interessiert. So ist Stephen King in diesem Punkt gescheitert, die Geschichte der Ehefrau zu erzählen. Die sonstigen Übersetzungen, insbes. bad-gunky halte ich jetzt nicht für sooo weltbewegend. Es ändert an der Geschichte nicht wirklich etwas, außerdem ist es grundsätzlich sehr schwer einen Text nicht nur wörtlich, sondern auch kulturell zu übersetzen. Ich denke, dass viele Leser kulturell in Bezug auf Horror- oder Thrillerliteratur amerikanisiert sind, und so mit amerikanischen Begriffen manchmal einfach besser zurechtkommen. Das hat mit der Übersetzung aber dann nichts mehr zu tun.
Positives: Besonders gut finde ich die sprachliche Darstellung gelungen. Wenn man sich probeweise eines der älteren King-Bücher nimmt (z.b. Cujo oder Carrie) und die ersten Seiten liest, wird man merken wie reif dieses Buch ist. Neben den Schilderungen von Booya Mond und den ambivalenten Gefühlen Scotts gegenüber seinem Vater hat es mir vor allem die Krankenhausszene, in der Scott stirbt, angetan. Dieses leere, graue Krankenhaus mit dem "Außer Betrieb"-Schild am Aufzug. Die leisen Stimmen. Der Schlauch, den Lisey aber nicht Scott sehen kann, von dem Flüssigkeit und Gewebeteile, später Blut zu einem Gerät fließen. Die Schnelligkeit von Scotts Ableben innerhalb weniger Stunden. Das hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Neben dem Sprachlichen möchte ich auch die entworfenen Charaktere erwähnen. Während Scott zu Beginn einen fast überzogen positiven Eindruck hinterlässt (erfolgreich, charmant, gebildet, geliebt, Meister der Rhetorik), wird er nach einer Weile zu einem merkwürdigen, labilen aber sympathischen Schriftsteller gezeichnet. Die Darstellung von Lisey ist genau in den Momenten gut, in denen sie zum leben erweckt. Dann wenn ihr der Slip in den Po gerutscht ist, wenn sie den Schweißgeruch ihrer Schwester wahrnimmt oder wenn sie Scott beim Zuspätkommen wegen hundert weiteren Sachen wie Fingernägel kauen anbrüllt.
Negatives:
Warum gebe ich nur 4 von 5 Punkten? Weil die Geschichte nicht so recht weiß, was sie will. Jim Dooley kann die Geschichte nicht wirklich tragen, er ist einfach nicht (George) S(s)tark genug. Die von Scott alleine reicht auch nicht, es fehlt etwas Großes. Am Anfang dachte ich, dass dies der Longboy sein werde, der in einem epischen Kampf besiegt werden würde oder dass es zu einem finalen Kampf um die Seele Scotts kommen würde. Aber nix da. Einfach nur BOOL! Ende!
Fazit:
Ich mag Love, in Love geht es um Liebe und Hass, darum dass Liebe Grenzen überwinden kann. Und es geht um loslassen können, um den Seufzer, der darauf folgt. Das mag pathetisch und sogar etwas naiv sein, Love erzählt es jedoch auf leise und feinfühlige Weise. Am Ende siegt und verliert niemand und der Leser bleibt mit einem bitter süßem Gefühl, dem Satz "Ich werde dich nach Hause rufen" und einem perfekt passenden Song von Ryan Adams zurück.
Wenn ich Love lese, werde ICH zum Gomer, der seine Welt verlässt. Mein Pool liegt zwischen zwei Buchdeckeln.
Winterspecht ( 5 / 5 )
Ein grandioses Buch!
Wieder ist es ein Reich der Gedanken- und Empfindungswelt - eine Welt gleich nebenan, die King hier in sein Werk einflicht. Kings Stärke liegt in der Gestaltung uralter Mythen und Märchen, die der Menschheit seit Urzeiten gehören, Motive, die nichts anderes sind als psychische Dimensionen, die uns alle einen. Die Faszination dieser so traumhaft-wirklich erscheinenden Welten (wir glauben, dass es sie nicht gibt, aber wir sind uns niemals wirklich sicher; mehr noch: wir gehen manchmal sogar so weit, zu glauben, dass es sie geben könnte) liegt nicht zuletzt darin, dass wir uns eine materielle und kalte Welt erschaffen haben. Wir wissen instinktiv, dass wir damit auf dem Holzweg sind in einer Zeit, da selbst die Wissenschaft zugeben muss, vor unglaublichen Rätseln zu stehen. Kurz: unser Weltbild wankt erheblich. Und das schon seit vielen Jahrzehnten. Vielleicht nehmen uns die Schilderungen, etwa von Boo'ya Mond, so gefangen, weil wir uns erinnern können, weil wir es wiedererkennen.
Am Schönsten drückt King sei eigenes Dasein mit folgenden Worten in die Zeilen des Buches: "Zwei Dinge haben ihm (Scott) Bodenhaftung verliehen und ihm vor dem Long Boy (persönlicher Tod) gerettet. Das Schreiben ist eines davon. Das andere hat eine Taille, um die er die Arme legen, und ein Ohr, in das er flüstern kann."
Ein Schlüsselsatz des Romans, XI, 14: "Diese Erinnerung handelte davon, dass sie kurz vor Tagesanbruch im Bett ihrer Schwester Amanda aufgewacht war und festgestellt hatte, dass Vergangenheit und Gegenwart sich fast untrennbar vermischt hatten."
So wie sich Lisey an dieser Stelle ihrer gedanklichen Reorganisation fühlt, liest sich dann auch das Buch, das nicht wenige Reminiszenzen an Autoren enthält, die King hier deutlich beeinflusst haben. Wir werden an Faulkner erinnert, wenn wir es mit den Slang-Ausdrücken zu tun bekommen (die neben der Privat-Sprache der Liebenden eine eigene Dimension bekommen). Das lineare Erzählen (das in der Literatur ohnehin längst kein Thema mehr ist) hat King hier zugunsten einer modernen Erzählweise aufgegeben. Die Unterkapitel werden kaum beendet sondern rasen förmlich ineinander. Hier zeigt sich, dass King nicht nur ein begnadeter Erzähler ist, sondern auch Techniken beherrscht, die ihm von den "Inkunks" immer abgesprochen werden und die den größten der amerikanischen Literatur (Thomas Pynchon, Don DeLillo, Paul Auster - um nur einige zu nennen) in nichts nachstehen. Ich erwähne das, weil es einen Aufschrei der literarischen Torwächter gab, als King den National Book Award zugesprochen bekam. Er bekam ihn für sein Gesamtwerk und er bekam ihn zurecht. Das möchte ich an dieser Stelle anmerken.
Es ist meines Erachtens nicht notwendig, Thomas Pynchon oder Jorge Luis Borges und den Hinweis auf den "Magischen Realismus" zu kennen. Ebensowenig wie es erforderlich ist, etwas über Hank Williams oder den Regisseur von "Die letzte Vorstellung" Peter Bogdanovich zu wissen. Sollte sich jedoch jemand die Mühe machen, den Spuren, die King auslegt - mal offen, mal nur kurz angedeutet - zu folgen, bekommt er eine Multimediavariante an die Hand, die sehr bereichernd sein kann. Ich erstelle gerade einer Liste der (soweit ich sie entdeckt habe) Hinweise und werde sie dann auch präsentieren.
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