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→Horaz Klotz (4 / 5)
''Sie'' gehört zu den King-Romanen, die sich so tief in die US-Popkultur gegraben haben, dass ich schon genau zu wissen glaubte was mich erwartet. ''Carrie'' und ''Shining'' sind andere solche Fälle. Ich habe das Gefühl schon Dutzende Parodien und Anspielungen dazu gesehen zu haben, die mir jeden Twist vorweggenommen haben. Wenn ich schon ein ziemlich klares Bild davon habe, wer in was verstrickt wird und wie das ganze ausgeht wozu es dann noch selber lesen? - Dachte ich zumindest. Jetzt bin ich ziemlich froh, dass ich mich trotzdem an ''Sie'' gesetzt habe, denn das Buch lohnt sich auch wenn man schon alles zu kennen glaubt.
Daneben bedient unser Autor mal wieder mit unbarmherziger Präzision eine weit verbreitete menschliche Grundangst. War ''ES'' das Buch für Clown-Phobiker, spricht ''Sie'' alle Ängste an, die man sich mit einem längeren Krankenhausaufenthalt verbinden kannlassen. Man liegt hilflos da, abgeschnitten von der echten Welt und völlig den Launen eines anderen ausgeliefert, der mit dem eigenen Körper machen kann was er will und nach Belieben Gliedmaßen amputiert. Stellenweise kratzt das ein bisschen am Klischee. Ich habe nur noch darauf gewartet, dass Annie Wilkes eines morgens als Zahnärztin neben Sheldon steht und anfängt ein paar Zähne zu ziehen - ohne Betäubung versteht sich. Aber immerhin zeigt King dabei hier mal wiedereindrucksvoll, dass seine menschlichen Bösewichte mindestens so schaurig sein können, wie die Fantasymonster mit denen er seine Welt sonst so gern bevölkert.
In diesen diesem Krankenhaus-Albtraum baut King unser Autor das Katz- und Mausspiel unserer seiner Figuren sehr geschickt auf. Man hofft, dass Sheldon einmal einen kleinen Sieg davon trägt, wenn er Pillen hortet oder allein durchs Haus schleicht - und ahnt doch jedes Mal, dass er wieder geschnappt wird. So sehr man ihm wünscht einmal eine Pause bekommt, einmal zu Atem z zu kommen, die Konfrontation mit seiner Entführerin Peinigerin bleiben mit Abstand die spannendsten Stellen des Buches. Wenn unser Protagonist zu lange allein gelassen wird, wird es manchmal tatsächlich ein bisschen langatmig. Zum Beispiel wenn Sheldon mal wieder ein bisschen zu ausführlich über die nächste Passage im Miserys-Abenteuer brütet. Sobald das Buch im Buch fertig geschrieben ist und der Endkampf vor der Tür steht wird es aber wieder richtig spektakulär. Heute liest sich Sheldons letzte Finte natürlich wie eine frühe Version des Endes von ''Finderlohn'', die aber deutlich weniger reibungslos funktioniert, wie der vergleichsweise einfache Tod von Morris Bellamy. Man kann darüber diskutieren, ob es nötig war der eigentlich abgeschlossenen Handlung noch ein kurzes 4. Kapitel hinterherzuschieben nur um zu erfahren wie Sheldon sein Abenteuer verdaut hat und wie sich der neueste Misery-Roman so verkauft, aber immerhin endet es auf einer so unerwarteten wie netten optimistischen Note.
Fazit: Deutlich brutaler, fesselnder und immer wieder anders als erwartet. Vielleicht sollte ich ''Carrie'' und ''Shining'' doch mal eine Chance geben.