Wilsons Zeitpolster schwindet
- James Wilson geht bei seiner womöglich wichtigsten Geschäftsreise auf Nummer sicher: Seinen Flug nach New York City plant er mit einem so großzügigen Zeitpolster, dass ihm zwischen Ankunft und Termin ganze fünf Stunden bleiben. Der Marketing-Experte aus Birmingham, Alabama will seine ausgeklügelte Werbe-Strategie zur Rettung der angeschlagenen Ölfirma Green Century bei der Internet-Werbefirma Market Forward stressfrei erläutern und hofft auf den größten Auftrag seines Lebens.
- Bald aber muss Wilson immer wieder an eines der Lieblingssprichwörter seiner Mutter denken, die stets behauptete: "Wenn etwas schiefgeht, dann geht es solange schief, bis die Tränen kommen".
- Dabei geht vorerst alles gut, der Check-In verläuft reibungslos. Doch schon vor der Landung kommt es zu Verzögerungen, und der Flieger muss über dem Flughafen kreisen, bis er endlich mit einer Stunde Verspätung landet. Bei der Gepäckrückgabe wartet Wilson vergeblich auf seinen Koffer und ist schon auf dem Weg zum Schalter für verlorenes Gepäck, als ein Flughafenarbeiter mit seinem Koffer ankommt, der vom Gepäcktransporter gefallen ist und etwas nass wurde, denn es regnet in New York. Doch Wilson will sich nicht mit einer Beschwerde aufhalten und zieht los; über zwei Stunden seines Zeitpolsters sind weg.
- Vor dem Flughafengebäude ist soviel los, dass es eine unglaubliche weitere Dreiviertelstunde dauert, bis er ein Taxi bekommt. Ihm ist klar, dass der geplante Zwischenstopp im Hotel wird ausfallen müssen, auch wenn ihm der Gedanke so gar nicht gefällt, mit seinem Koffer bei Market Forward einzumarschieren - kein guter erster Eindruck.
- Der Taxifahrer ist ein Angehöriger der Sikh-Religion und spricht nur sehr gebrochen Englisch, seufzt nur immer wieder "starker Verkehr, sehr starker Verkehr", und tatsächlich kriechen sie durch Manhattan. Wilson ist sich des kleinen Zeitfensters bewusst, das man ihm bei Market Forward zugestehen wird: eine halbe Stunde, nicht mehr. Und wird man auf ihn warten, wenn er zu spät kommt? Wohl kaum. Aber er hat ja noch ein wenig Zeit, noch eineinviertel Stunden. Das muss doch wohl reichen.
- Der Midtown Tunnel ist wie immer ein Nadelöhr, auch auf der anderen Seite geht es mit qualvoll langsamem Stop and Go weiter. Dann auch noch eine Baustelle aufgrund einer geborstenen Wasserleitung ... Wilsons Zeitpolster schwindet, bis er sogar mit dem Gedanken spielt, den Rest des Wegs zu Fuß zurückzulegen. Doch es regnet und er käme dann an wie ein begossener Pudel.
Der Peter Pan Bus
- Während er so seinen zunehmend verzweifelten Gedanken nachhängt, hält in der Spur neben ihm ein grüner Bus der im Nordosten der USA sehr bekannten Kette "Peter Pan". Keine zwei Meter von ihm entfernt sitzt im Bus eine gutaussehende Frau, die eine Zeitschrift liest, neben ihr ein Mann in einem schwarzen Regenmantel, der in einer Aktentasche herumkramt. Wie hypnotisiert beobachtet Wilson die beiden, die sich seiner Anwesenheit gar nicht bewusst sind. Die Frau fasst sich an die Lippen, vielleicht, um ihren Lippenstift zu überprüfen, der Mann holt einen schwarzen Schal aus seiner Tasche, schnüffelt daran.
- Erstmals vergisst er seinen Stress, als ihm eine einfache Wahrheit klar wird: Dieser Bus ist eine andere Welt. Diese beiden Mitfahrer haben ihre eigenen Probleme, ihre eigenen Termine, ihr ganz eigenes Leben, ihre Träume, ihre Persönlichkeiten mit Familien und Verwandten. Hier treffen gerade zwei Welten aufeinandern, die des Taxis und die des Busses. So banal diese Erkenntnis sein mag, sie schlägt Wilson völlig in ihren Bann.
- In diesem Moment spricht der Mann im Bus die lesende Frau an, die sich ihm überrascht zudreht, und bevor Wilson so recht begreift, was er da sieht, schlitzt der Mann der Frau mit einem Messer die Kehle durch.
- Entsetzt beobachtet Wilson, wie der Mörder seinen Schal gegen den blutenden Hals der Frau presst und ihre Schläfe küsst. Durch ihre Haare hindurch sieht er Wilson in seinem Taxi - und schenkt ihm ein breites Grinsen, nickt ihm verschwörerisch zu, als wollte er sagen: Jetzt haben wir ein Geheimnis. Blut läuft das Busfenster herunter, und noch während der Killer Wilson anlächelt, steckt er der Sterbenden einen Finger in den Mund. In diesem Moment fährt das Taxi weiter.
Was tun?
- Mit geschockter Stimme fragt Wilson den Fahrer, ob er das eben auch gesehen habe, doch der Sikh weiß nicht, wovon Wilson spricht. Da erinnert sich Wilson an sein Handy. Er muss einen Notruf absetzen! Doch er denkt an die Komplikationen, wenn die Polizei kommt und mit ihm sprechen will. Dann wird er es ganz sicher nicht zu seinem Termin schaffen. Und Wilson will doch so gerne seine ins Detail durchdachte Werbe-Strategie darlegen! Der Killer wird ohnehin längst geflohen sein, bevor die Polizei ihn schnappen kann, oder? Sicherlich hat die Frau geschrien, andere Fahrgäste sind womöglich gerade in dieser Sekunde dabei, den Killer zu überwältigen. Oder wie wäre es mit dieser Idee: Das alles war nur ein übler Streich, den die beiden gemeinsam ausgeheckt hatten, um anderen Verkehrsteilnehmern den Schrecken ihres Lebens einzujagen. Ist das so undenkbar?
- Umso mehr er darüber nachdenkt, desto plausibler scheinen ihm seine Gedankengänge. Frauen wurden in Gassen ermordet oder im Fernsehen, nicht aber in Peter Pan Bussen! Und er selbst, Wilson, hat eine so geniale Werbe-Idee!
- Entschlossen bittet Wilson den Fahrer, ihn bei der nächsten Ampel aussteigen zu lassen. Er will den Rest des Weges zu Fuß bewältigen.
V E
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