Gott ist grausam

Version vom 20. Dezember 2007, 17:08 Uhr von Wörterschmied (Diskussion | Beiträge) (Marinvilles Wendung: ini-link verbessert)


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Gott ist grausam. Dieser Satz ist das zentrale Thema von Stephen Kings Roman Desperation.

Er zieht sich wie ein roter Faden durch die Kapitel (die Überschrift des letzten Kapitels beinhaltet sogar diesen Satz) und taucht immer wieder und vor allem in den Dialogen zwischen David Carver und Johnny Marinville auf, wobei sich der grundsätzliche Tenor und die Bedeutung des Satzes immer wieder verändern, bis aus ihm schließlich ein anderer Satz wird: Gott ist Liebe (I. Brief des Johannes, Kapitel 4, Vers 8).

Ursprung

Nachdem sein Freund Brian Ross durch einen Verkehrsunfall ins Krankenhaus kommt und die Ärzte ihm keine Überlebenschancen einräumen, sucht David die Hilfe Gottes. Er betet für die Heilung seines Freundes und der Junge erwacht tatsächlich wieder aus seinem Koma.

Glücklich, aber durch das Wunder auch sehr verwirrt und etwas geängstigt, beginnt David Gespräche mit Reverend Martin zu führen, der ihm vieles über das Wirken, aber auch über den Zorn Gottes erzählt.

David kommt zu folgendem Schluss:

   
Gott ist grausam
»Gott ist nicht sehr zum Vergeben geneigt, oder?«
»Aber gewiß doch«, sagte Reverend Martin, der sich ein wenig überrascht anhörte. »Das mu[ss] er, weil er so hohe Ansprüche stellt.«
»Aber er ist auch grausam, oder nicht?«
Gene Martin hatte nicht gezögert. »Ja«, sagte er. »Gott ist grausam. Ich habe Popcorn, David - möchtest du, da[ss] ich welches mache?«
   
Gott ist grausam

Davids Aufgabe

David erlebt in der Stadt Desperation einen Alptraum nach dem anderen: erst stirbt seine Schwester Kirsten, dann wird seine Mutter von einem besessenen Cop entführt. David glaubt, dass dies der Preis für die Wunderheilung seines Freundes ist: Gott tat David einen Gefallen, um ihn zu verpflichten, einen für ihn zu tun, egal zu welchem Preis.

Der Junge bekommt eine Vision von einem Mann, der ihm immer wieder zu religiösen Dialogen auffordert, doch David glaubt, dass der Preis, den Gott von ihm verlangt zu hoch ist und erhebt Widerwillen gegen ihn. Letztendlich kann nur der Mann in seiner Vision David von seiner Aufgabe überzeugen:

   
Gott ist grausam
»Welche Erfahrungen hast du mit dem Wesen Gottes?«
»Das will ich nicht sagen.« David sah seine Hände an, dann wieder den ernsten, aufmerksamen Mann - den seltsam vertrau wirkenden Mann - mit der Sonnenbrille. »Ich habe Angst, ich gerate in Schwierigkeiten.« 
Er zögerte, dann gab er seine wahre Befürchtung preis: »Ich habe Angst, Sie sind Gott.«
Der Mann gab ein kurzes, wehmütiges Lachen von sich. »Es gab eine Zeit, da dachte ich, du hättest recht. Was weißt du vom Wesen Gottes? Welche Erfahrungen hast du gemacht?«
Mit größtem Widerstreben sagte David: »Gott ist grausam.«
Er betrachtete wieder seine Hände und zählte langsam bis fünf. Als er da angekommen und immer noch nicht von einem Blitzstrahl gebraten worden war, sah er wieder auf. Der Mann in Jeans und T-Shirt war immer noch ernst und aufmerksam, aber David sah keinen Zorn in ihm.
»Das stimmt, Gott ist grausam. Wir werden langsamer, die Mumie erwischt uns am Ende immer, und Gott ist grausam. Warum ist Gott grausam, David?« […]
»Gottes Grausamkeit veredelt«, sagte er.
»Wir sind das Bergwerk, und Gott ist der Bergmann?«
»Nun -«
»Und alle Grausamkeit ist gut? Gott ist gut, und Grausamkeit ist gut?«
»Nein, nein, das ist überhaupt nicht gut!« […]
»Du bist auf die Welt gekommen, um Gott zu lieben -«
»Nein!«
»- und ihm zu dienen.«
»Nein! Scheiß auf Gott! Scheiß auf seine Liebe! Scheiß auf seine Dienste!«
»Gott kann dich nicht zwingen, etwas zu tun, das du nicht willst -«
»Lassen Sie das! Ich werde nicht zuhören, ich werde mich nicht entscheiden! Haben Sie gehört? Haben Sie -«
»Psst-hörzu!«
Und nicht völlig gegen seinen Willen, hörte David zu.
   
Gott ist grausam

Marinville

Der Junge trifft auf den egoistischen Schrifsteller Marinville, welcher den Jungen für seinen Glauben verspottet. Bei diesem Gespräch ist es David, der seinen älteren Mitmenschen zur Hoffnung animieren will.

   
Gott ist grausam
»Mann, dein Gott, das ist vielleicht einer!« sagte Marinville fröhlich. »Der weiß wirklich, wie man eine Gefälligkeit vergelten muss, oder nicht, David?«
»Gott ist grausam«, sagte David mit einer so leisen Stimme, da[ss] man es kaum hören konnte.
»Was?« fragte Marinville. »Was hast du gesagt?«
»Sie wissen es. Aber das Leben besteht nicht nur darin, da[ss] man dem Schmerz ausweicht. Das wußten Sie auch mal, Mr. Marinville, öder nicht?«
Marinville sah in die Ecke des Busses und sagte nichts.
   
Gott ist grausam

Nach schrecklichen Ereignissen, die der Junge miterleben muss, wendet sich das Blatt und David ist es, der von Marinville eine Lektion erteilt bekommt. Erst zögerlich:

   
Gott ist grausam
»Gott ist grausam.«
David nickte, und Johnny sah, da[ss] der Junge den Tränen nahe war.
»Das ist er ganz sicher. Vielleicht besser als [Tak], aber trotzdem ziemlich gemein.«
»Aber Gottes Grausamkeit ist läuternd ... geht jedenfalls das Gerücht. Ja?«
»Nun ... vielleicht.«
»Auf jeden Fall ist dein Freund am Leben.«
»Ja -«
»Und vielleicht ging es gar nicht um dich. Vielleicht findet dein Kumpel eines Tages ein Heilmittel gegen Aids oder Krebs. Vielleicht trifft er den Ball in sechzig Spielen hintereinander.«
»Vielleicht.« 
   
Gott ist grausam

Dann überzeugter:

   
Gott ist grausam
»Hör mir zu, David. Ich werde dir etwas sagen, das du nicht von deinem Priester oder aus der Bibel gelernt hast. Soweit ich weiß, ist es eine Botschaft von Gott persönlich. Hörst du zu?«

David sah ihn nur an und sagte nichts.

»Du hast gesagt: Gott ist grausam wie jemand, der sein ganzes Leben auf Tahiti verbracht hat, sagen würde: Schnee ist kalt. Du hast es gewu[ss]t, aber nicht verstanden.« Er trat näher zu David und legte dem Jungen die Handflächen auf die kalten Wangen. »Weißt du, wie grausam dein Gott sein kann, David? Wie unvorstellbar grausam?«
David wartete, sagte aber nichts. Vielleicht hörte er zu, vielleicht nicht. Johnny konnte es nicht sagen.
»Manchmal läßt er uns leben.«
   
Gott ist grausam

Marinvilles Wendung

Marinville, der viel mehr Lebenserfahrung hat als der Junge, ist letztendlich besser in der Lage, den Satz zu verstehen. David glaubt, seinen Auftrag erfüllen zu können, indem er sich mit der Mine in die Luft sprengt. Als er auch noch sein letztes Familienmitglied durch Tak verliert, brennen bei ihm alle Sicherungen durch und er möchte nur noch sterben, einerseits um seinen Auftrag zu erfüllen, anderseits um den moralischen Konflikten zu ergehen.

Marinville findet jedoch durch die Worte Davids zu seinem eigenen Glauben zurück und übernimmt die Aufgabe anstelle von David und sprengt sich mitsamt der Höhle von Tak in die Luft. David erfährt zwei wichtige Aspekte, während Marinville seine Aufgabe erledigt:

  1. oft ist nicht der Tod das Grausame, sondern das Weiterleben
  2. den Mann aus seiner Vision erkennt er auf einem Passfoto wieder – es ist John Marinville in jungen Jahren – Davids Aufgabe war es letztendlich nicht, Tak zu besiegen, sondern Marinville zurück zum Glauben zu bringen, damit jener diese Aufgabe erledigen kann.

David findet ei Stück Papier in seinen Taschen, das Marinville ihm kurz vor seinem Tod zugesteckt hat. Die Botschaft darauf, bewirkt – ähnlich wie das Nachwort von U. Ecos Der Name der Rose – eine vollkommen neue Sicht auf den Roman, welche das negative Bild Gottes, welches im Roman oft vertreten wird, doch noch zum Guten wendet:

   
Gott ist grausam
»Ich würde eine Million wetten, da[ss] es seine (Marinvilles) Handschrift ist, wenn ich eine Million hätte«, sagte sie. »Verstehst du die Verweisung, David?«
David nahm den blauen Ausweis. »Natürlich. Der erste Brief des Johannes, Kapitel 4, Vers 8. Gott ist Liebe
Sie sah ihn lange an. »Stimmt das, David? Ist er die Liebe?«
»O ja«, sagte David. Er faltete den Ausweis an dem Kniff entlang. »Ich schätze, irgendwie ist er ... alles.«
   
Gott ist grausam