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Tiberius (5/5)
Ein Tod ist eine kleine, aber feine Kurzgeschichte, welche King im März 2015 im Magazin The New Yorker veröffentlichte. Da sie online frei verfügbar ist, darf ich hemmungslos spoilern, oder? Na, dann mal los.
King nimmt uns mit in den Wilden Westen zu einer Zeit, als es noch echte Cowboys gab. Jim Trusdale wird verdächtigt, ein Kind wegen einer Silbermünze ermordet zu haben. Sheriff Otis Barclay hat die wunderbare Aufgabe in der Geschichte, den Mann festzunehmen und anschließend vor dem erbosten Mob zu beschützen. Dazu kommt für uns Leser noch die Rolle des Gewissens. Barclay hegt immer stärker werdende Zweifel an der vermeintlichen Brutalität und Gerissenheit des tumb wirkenden, alleinstehenden jungen Mannes und wir als Leser sollen dem folgen.
Es ist nichts übernatürliches an der Geschichte. Auch nichts, was man mit den klassischen Motiven der Horrorliteratur auch nur annähernd in Verbindung setzen könnte. Stattdessen bietet die Geschichte ein wenig Law & Order, ein wenig Abenteuer im Wilden Westen und eine Prise The Green Mile. Mir geht es wie Sheriff Barclay. Ich möchte glauben, dass der dumme Mann, den sie festnehmen unschuldig ist. Ich möchte glauben, dass er doch noch irgendwie vom Galgen gerettet werden kann. Denn King präsentiert ihn, als wäre er mit seiner Welt eigentlich im Reinen. Er macht sich scheinbar keine großen Gedanken über seine Zukunft. Wieso würde er also ein Mädchen für eine Münze ermorden? Wieso würde er dann noch im Ort bleiben? Das weiß wahrscheinlich noch nichtmal Trusdale selbst.
Umso effektiver Kings kleiner Plottwist nachdem Trusdale am Galgen baumelt. Schon in der Zeit davor fand ich es beeindruckend, wie nah ich an Barclays eigenen Gedanken war. Der Versuch den Mob des Ortes zurückzuhalten. Die Art und Weise, wie er erst an der Schuld von Trusdale zweifelte, bis hin zur Überzeugung, dass er unschuldig ist. Nur um dann mit dem Ende komplett überascht zu werden.
Maybe that says more about you than it does about him. | ||
Croaton (4/5)
Mir hat die Geschichte gut gefallen, ich habe sie in einem Rutsch gelesen und mich durchwegs gut unterhalten gefühlt. Allerdings sind die Parallelen zwischen Jim Trusdale und John Coffey etwas zu eklatant: Beide sind schwarz und minderbemittelt, beide werden vom wichtigsten Gesetzeshüter der Geschichte für unschuldig gehalten (von Otis Barclay bzw. Paul Edgecombe), beide werden für den Mord an einem Mädchen angeklagt, beide drehen vor Angst fast durch, als sie die Haube des Henkers sehen.
Es ist der Twist am Ende, der der Story das Sahnehäubchen aufsetzt - wäre Jim tatsächlich unschuldig gewesen, wäre die Kurzgeschichte in Banalität untergegangen, so aber spielt sie sehr gelungen mit den Emotionen des Lesers ... und des Sheriffs.
Fazit: Ein kurzer Leckerbissen mit Anleihen an der grünen Meile.
Horaz Klotz (4 / 5)
Auf den ersten Blick wirkt Ein Tod wie ein kleiner, bitterböser Streich, den King seinen treuen Lesern spielt. Eine kleine Erinnerung es sich in seiner Welt nicht zu gemütlich zu machen, nur weil man glaubt alle Kniffe durchschaut zu haben. Der mutmaßliche Mörder wirkt eine Spur zu unschuldig, der heldenhafte Kampf des einsamen Sheriffs gegen das ungerechte System (mit Staatsanwalt und Richter in Personalunion!) eine Spur zu klischeehaft. Nach wenigen Seiten glaubt man zu wissen wie das alles ausgehen muss - mal wieder eine bittere Anklage gegen das US-Justizsystem, eine weitere Geschichte über einen unschuldig Verurteilten, ein weiteres Opfer des Systems. Stattdessen zieht unser Autor plötzlich seinen Twist aus dem Ärmel und bricht mit allen Erwartungen. Trusdale war doch schuldig. Der Sheriff lag falsch. Der Leser auch. Ätsch. Aber funktioniert die Geschichte auch, wenn man den Schluss kennt? Ich finde ja.
Gerade durch das Ende wird die Story nämlich zur unerwartet schonungslosen Auseinandersetzung mit dem ur-amerikanischen Konzept der Todesstrafe. Das King hier nicht schon wieder einen Unschuldigen an den Galgen schickt eröffnet ganz neue Argumentationsräume. Es ist immer sehr einfach gegen die Todesstrafe zu sein, wenn es ein magisches Unschuldslamm wie John Coffey (Green Mile) trifft - oder wenn der Täter einen abgrundtief bösen Dämon ausschalten wollte, der nur zufällig wie ein Böser Kleiner Junge aussieht. Aber um wirklich ernsthaft über ein so nüchternes Thema zu schreiben, muss man das ganze übernatürliche Drumherum irgendwann streichen. Und die Frage stellen ob es in Ordnung ist einen ganz normalen Menschen aus Fleisch und Blut für seine Verbrechen hinzurichten. Und das gelingt im nachdenklichen Schlussabsatz dieser Geschichte ganz gut. Nachdem der Leser dem hilflosen, offenbar geistig eingeschränkten Trusdale über Seiten hinweg die Daumen gedrückt hat, bleibt er am Ende mit seinen Gedanken allein zurück. Das King uns hier nicht weiter an die Hand nimmt und nicht etwa mit einer pathetischen Rede gegen die Todesstrafe schließt ist für mich ein großer Pluspunkt der Geschichte.
Bei so einer zeitlosen philosophischen Frage spielt das Setting eigentlich keine große Rolle. Und tatsächlich habe mich mir besonders viel vom Wild West-Hintergrund versprochen - für mich funktioniert King eigentlich immer am besten, wenn er halbwegs zeitgemäß bleibt und sich nicht zu sehr in seine Revolvermann-Cowboy-Romantik verliert. Hier hielt er sich zum Glück ziemlich zurück, es gibt ein paar ganz interessante kurze Einblick in das damalige Rechtssystem und es ist eine gute Ausrede warum nicht nach verlässlicheren Beweisen gesucht wird als einem Hut. Die Figuren funktionieren jedenfalls auch in diesem Setting - Barclay als einsamer Sheriff, dem zum ersten Mal Zweifel am Justizsystem kommen und der vielleicht eine Spur zu einfältige Trusdale, der aber schlau genug ist seine Beweismünze wieder und wieder zu verschlucken - ein Motiv das Fans zum Beispiel aus Musterschüler bekannt vorkommen dürfte.
Fazit: Eine nette kurze Story, die beim ersten Lesen als düsterer Twist bekannterer Geschichten und beim zweiten ganz auf sich allein gestellt funktioniert.
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