Jener Bus ist eine andere Welt: Rezension: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 17. Dezember 2015, 11:53 Uhr
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Inhaltsverzeichnis
Tiberius (5 / 5)
Für mich gibt es mehrere Phasen in Kings Portfolio an Kurzgeschichten. Da ist seine ganz frühe Schaffenszeit, die Geschichten beinhaltet, die offensichtlich von bekannten Horror- und Science Fiction Autoren beeinflusst ist. Da ist die Zeit als er älter war, aber noch nicht berühmt. Kurze, aber trotzdem prägnante Geschichten voller Kreativität. Später, zwischen den 80ern und Ende der 90er sind es Geschichten, die in alle möglichen Richtungen abdriften und ausloten, was alles Horror sein kann. Und da sind seine aktuelleren Geschichten. Viele von ihnen sind voller moralischer Lektionen oder Gedanken eines inzwischen in die Jahre gekommenen Autors. Alle für sich gut zu lesen, aber die Geschichten, die mich beeindrucken sind die aus Phase zwei. Geschichten mit einem Schlag in die Magengrube, wie Das Schreckgespenst oder Der Mann, der Blumen liebte, bewundere ich noch heute dafür, wie gut sie trotz ihrer Kürze funktionieren. Zu schade, dass King sie nicht mehr schreibt. Bisher nicht mehr geschrieben hat muss man inzwischen schreiben. Denn That Bus Is Another World ist mal wieder so eine Geschichte. Zum ersten Mal veröffentlicht in der August-Ausgabe des Esquire nimmt sie dort nichtmal ganz drei Magazinseiten ein, wenn man die Bilder und die großgedruckte Einleitung mitberechnet. Doch die Geschichte hat es in meinen Augen in sich. Es werden nicht viele Namen genannt und die Gegend ist zwar bekannt, New York City, aber so beliebig austauschbar, dass es auch der Ort von Kings Inspiration sein könnte.
Denn King hat von der Geschichte erzählt. Als er Ende November in München und Hamburg zur Buchvorstellung von Doctor Sleep war, erzählte er, wie er vom Pariser Flughafen in das Stadtzentrum in einen Stau geriet und ein Bus neben seinem Fahrzeug hielt. Wie würde er reagieren, wenn plötzlich dort ein Mord passieren würde? Genau dieser Funke bringt auch der Kurzgeschichte entsprechendes Feuer. Der Brite James Wilson ist zu Besuch in der Großstadt und wird vor diese Frage gestellt.
Dabei schafft King es mit wenigen Worten einen Spannungsbogen clever aufzubauen. Der Protagonist gerät trotz immensem Zeitpolster bei seiner Reise in Zeitnot. Jeder, der schonmal seine Planung durch einen Stau umschmeißen musste, kann ihm nachfühlen. Ebenso der Blick zur Seite - in eine andere Welt, wenn man so will - der eigentlich eher unbewusst stattfindet, denn man hat ja seine ganz eigene Welt und ist selbst unter Zeitdruck. Nur um von King dann doch wieder aus dieser gerissen zu werden. Kurz, prägnant, brutal, geschieht das Unglück. Eine Stelle, die ich zweimal lesen musste, um sie so wirklich zu begreifen. Was ist also zu tun, wie wird Wilson reagieren und was wird für ihn höhere Prioritäten haben? Das wird nach diesem Schlüsselereignis nach etwa zwei Drittel der Geschichte zur Nebensache, denn King hat es dort bereits für mich geschafft. Ich werde wahrscheinlich mit einem aufmerksameren Bewusstsein in die Autos und Busse neben mir sehen, wenn ich im Verkehr zum Stillstand komme. Immer mit dem Hintergedanken - nicht, dass der Wagen eine andere Welt ist, sondern - was wohl grausames passieren könnte. Was für eine großartige Geschichte.
Croaton (5 / 5)
In dieser Geschichte kommt einmal mehr zum Tragen, was King wie kaum ein anderer Schriftsteller zu tun versteht: Der Leser kann sich in dem Hauptcharakter wiedererkennen, erlebt mit ihm den so unvergleichlich formulierten Alltag, dass man sich sofort in seine Haut versetzen kann - und stellt ihn dann vor ein kniffliges Problem, das dann nicht nur diese Figur, sondern auch der Leser selbst bewältigen muss.
In diesem Fall treffen wir auf James Wilson, der eine Eigenart hat, die ich selbst nicht leugnen kann: Er plant wichtige Termine mit einem Zeitpuffer, dass andere ihn dafür wohl eher belächeln mögen. Und der Leser erlebt mit ihm die Qualen, als dieses sicher geglaubte Polster im New Yorker Verkehrschaos immer mehr schwindet. Das allein ist schon Horror genug. Dann aber kommt der Bus dazu und führt Wilson eine profane Erkenntnis vor Augen, nämlich, dass jeder Mensch - hier repräsentiert von zwei Fahrgästen, die er durch die Scheiben sieht - seine eigenen Probleme, Termine und Träume hat, dass sich die Welt nicht nur um Wilson dreht. Hier prallen zwei Welten aufeinander, die des Taxis und die des Busses.
Und noch während Wilson diese Erleuchtung verdaut, geschieht vor seinen Augen ein brutaler Mord, dessen unfreiwilliger Zeuge er wird. Ab diesem Moment stellt King alles wieder auf den Kopf, denn hat Wilson gerade noch begriffen, dass er nicht der Nabel der Welt ist, kommt sofort wieder sein ganzer Egoismus zum Tragen. Jeder ist sich selbst der Nächste, und so entscheidet Wilson sich genau deswegen dafür, nichts zu unternehmen, um ja nicht zu spät zu seinem Termin zu kommen. Dieser brillante Kontrast zwischen "Alle Menschen sind eine Welt für sich" und "Aber der wichtigste Mensch bin ich" ist eine vortreffliche Parabel unserer modernen Gesellschaft, in der ein jeder sich für die Krönung der Menschheit hält und auf sozialen Netzwerken in den Mittelpunkt zu setzen versucht. Ich weiß nicht, ob King so weit denken wollte, aber in meiner Interpretation ist James Wilson der Prototyp der egozentrischen Gesellschaft - und dass ich von Anfang bis zum Ende mit ihm leide und seine ganzen Ausflüchte, wieso er der fremden Frau im Bus nicht helfen kann, problemlos nachvollziehen kann, ist mit das Erschreckendste an der Story.
Fazit: Ein kurzer Emotionstrip, der bei mir Spuren hinterlassen wird und den Leser dazu einlädt, die Egozentrik der modernen Welt zu hinterfragen.